Ein Mitarbeiter erzählt

Meine Erfahrungen

Auf dem Weg zu jedem neuen Lebensspiegel spüre ich eine Anspannung: Was erwartet mich? In welchem Zustand werde ich meine Gesprächspartnerin antreffen? Habe ich Ersatzbatterien für mein Aufnahmegerät dabei? Bin ich bereit?

Kurz nach Beginn fliesst die Erzählung dann ganz selbstverständlich und vertraut. Nun geht es darum zu spüren, ob etwas Wesentliches vergessen geht. Vollständigkeit ist natürlich nicht möglich. Aber was macht den Glanz und den Reichtum dieses Lebens aus? Wird vielleicht aus Bescheidenheit ein Erfolg weggelassen?

Manchmal muss jemand von einer grossen Enttäuschung berichten oder einem Streit mit einem Partner. Dann frage ich auch einmal nach, ob das Erlebnis vielleicht im Nachhinein einen positiven Aspekt hat, ob möglicherweise sogar ein Dank ausgedrückt werden kann.
Wenn ich mit der Aufnahme zurückkehre, trage ich stets eine grosse Kostbarkeit mit mir.

Zuhause schreibe ich den Text in Schriftsprache nieder. Dabei achte bei der Wahl der Ausdrücke darauf, dass man den charakteristischen Ton der Erzählenden möglichst wiedererkennt.
Nach etwa einer Woche fahre ich zum zweiten Besuch. Jetzt bin ich dran: Ich lese die ganze Geschichte vor. Obwohl mir meine Zuhörerin das ja alles selbst erzählt hat, ist sie oft selber überrascht, sogar überwältigt: „Dass ich so ein reiches Leben hatte, war mir ja gar nicht bewusst!“
Nun suchen wir zusammen eine Idee für ein Titelbild, das gut zu dieser Lebensgeschichte passen würde.

Beim Überbringen des fertigen Lebensspiegels, schleicht sich schon fast Wehmut ein: Nun heisst es, die vertraut gewordene Person und ihre Geschichte wieder loszulassen.

Ich übergebe die Hefte, mal ist es ein einziges, mal - wenn jedes Kind und jeder Enkel ein Exemplar erhalten soll - ein Dutzend oder mehr. Den Dank der Empfängerin beantworte ich ebenfalls mit einem Dankeschön: Auch ich bin durch diese Arbeit reich beschenkt worden.

Markus Eberhard